| Zum Geleit Ein fotografiertes  Schulgelände, irgendwo in einer chinesischen Stadt. Im Hintergrund zwei  verwaiste Schornsteine, aus denen schwärzlicher Rauch emporsteigt. Ein zweites  Bild zeigt das gleiche Gelände aus einer anderen Perspektive. Zu sehen ist ein  neu gebautes Hochhaus-Wohngebiet aus Gießbeton, gleichförmig, in Reih und  Glied, wie eine Terrakotta-Armee, reglos auf große Parade wartend. Auf dem  dritten Foto schwärmt eine Gruppe Kinder aus dem Schulhof. Schwer zu sagen, ob  die Kinder erschöpft oder erbaut den Schultag hier und jetzt beendet haben.
 Diese und weitere  Fotos lassen zuerst etwas Journalistisches vermuten, eine Reportage,  sozial-kritisch oder politisch ironisierend. Ihre Autoren sind aber drei  chinesische Maler, die sich über ein Jahr einem Kunstprojekt gewidmet haben.  „Die neuen Acht Szenerien einer Stadt - Qingdao“ nennen sie ihr Werk, das ab  heute dem deutschen Publikum präsentiert wird.
 
 Was ist dabei so  sehenswert?
 
 Kein Baumonument  ist zu bewundern, kein epochales Experiment von Star-Architekten zu bestaunen,  und auch keine leistungsstarken Baumaschinen, die, in zahlreichen journalistischen  Fotos festgehalten, seit Jahrzehnten Beweise für Chinas Umwälzung liefern.  Beweise, die insbesondere die kapitalistisch-westliche Welt neidisch bis  besorgt aufstöhnen lassen: Wie schnell katapultiert sich das Land aus der Armut  heraus! Oder: Wo würde dieses China in zehn Jahren stehen, weit vor den USA,  der Nummer eins von heute, und dann? Nein, sehenswert ist hier von alldem  nichts.
 
 Dafür stechen  Prozesse ins Auge, die aus verschiedenen Perspektiven unterschiedliche  Geschichten erzählen. Dies zeitgleich: Geschichte, wie die massive  Gleichförmigkeit als moderne Stadtkrankheit entsteht, jede Individualität in  Form und Farbe erstickend; Geschichte, wie, einst als Symbole für Fortschritte  der Industrialisierung gefeiert, Schornsteine mehr an Luftverschmutzung denn an  Eisen und Stahl erinnern, daran, wie Menschen der chinesischen Städte Atemnot  verspüren; kaum daran, wie aus Eisen und Stahl Maschinen für „schneller, höher  und weiter“ gemacht werden. Geschichte, wie Chinas nächste Generation nach maschinellen  Leistungsprinzipien Tag für Tag im Schulalltag geformt wird. Nicht nur werden  ähnliche Ambitionen genährt, nämlich irgendwann im Westen an irgendeiner  Star-Universität pauken zu dürfen; auch lernen die Kinder meist erstaunlich  ähnliche Angst kennen, auf der Leiter nach oben zu versagen, irgendwie…
 
 Gastieren hier  drei Künstler als scharfsinnige Sozialreporter, die in Verfremdung  fotographischer Beobachtungen einer sich ständig wandelnden Urbangesellschaft  ihre Wahrheit suchen und finden? Das allein würde eine kleine Revolution im  gegenwärtigen China bedeuten, dort, wo die meisten Künstler gemäß westlichem  Vorbild nach extremen, bisweilen extravaganten Formsprachen eines exklusiven  Individualismus jagen, dort, wo nach Ai Weiwei heute nur noch selten jemand den  Mut findet, des Künstlers Augenmerk auf Chinas Gesellschaft zu lenken. Das  allein wäre schon sehenswert.
 
 Doch die Künstler  gehen weiter. Wie Soziologen sammeln sie Proben, möglichst umfassend, so nach  dem Motto: Je präziser aufbereitet die Proben, desto wirklichkeitsnäher ihre  Reflexion über Chinas Urbanität heute. Dazu gehören: Glanz und Glamour der  Stahl-Glas-Fassade eines Bankturms, Szenen eines Shopping-Malls, Bauland  mitsamt Bauruinen, zudem ein Kontrastprogramm zum urbanen Leben, nämlich Szenen  aus ländlichen Regionen, wo Chinas neue Städter herstammen – etwa aus bergischen  Dörfern. Das Sehenswerte hier: Es geht bei ihrem Werk längst nicht mehr um  spontane, geniale Einfälle einzelner Künstler, die vor der Kulisse einer  vorselektierten Realität ihre Imaginationen auskosten.
 
 Vielmehr – auch  dies ist besonders sehenswert – dienen ihre künstlerisch-kreativen  Assoziationen dazu, eine scharfsinnig portraitierte Urban-Wirklichkeit im China  von Heute tiefsinniger Reflexion zuzuführen. Hier zeigen sich die Künstler  beharrlich, ihre realen Eindrücke „flächendeckend“ neu zu komponieren. Oder wie  Ni Shaofeng, einer der hier ausgestellten drei Künstler bemerkte: „Alle sechs  Seiten eines kubischen Objektes müssen auf einer papiernen Fläche entfaltet und  neu komponiert werden.“
 
 Also kommt das  Mao-Konterfei aus der „Proletarischen Kulturrevolution“ auf die gleiche Fläche  mit grellen Leuchtfarben, die an Neonlichter profitsüchtig machender  Werbeindustrie der Globalisierung erinnern. Gibt es etwa eine trefflichere  Satire über zeitgenössische Anachronismen, die viele Chinesen seit Jahren  zusammenfassen als „nach links blinken – zurück in die Mao-Ära –, um nach  rechts abzubiegen, tiefer in die Fänge von Wall-Street“? An einer anderen  Stelle gesellen sich Backsteinmuster, verfremdet in altkalligraphische Streifen  aus der chinesischen Antike, zu Bruchstücken städtischer Betonwälder, die  realiter jegliche Backstein-Kultur als zeitunwürdig längst verdrängt haben. Tut  sich hier eine postmoderne Dialektik kund, die global gilt: Erst versuchen,  alte Erinnerungen zu verbannen, um sie dann nostalgisch, halbverschämt zu  vermissen?
 
 Spätestens hier  begeben sich die Künstler aus ihren Rollen als Gesellschaftsreporter und  Soziologen heraus tief in die dritte Rolle hinein - als Philosophen, die, nicht  schwadronierend wortreich, mit allen Sinnen, einschließlich Scharf- und  Tiefsinn, uns eine chinesische Urban-Realität präsentieren. Bildlich und  bilderreich.
 
 Und für mich  persönlich ist die Ausstellung ihrer Kunstwerke umso sehenswerter – dank  unserer Zeit, die viele im Westen bereits als „postfaktische Ära“ quittiert  haben, eine Ära, in der jede Suche nach Realität, geschweige denn nach tief  reflektierter Wahrheit, schon Fake-News bedeutet.
 Shi Ming Berlin, 22. August 2018
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      | Vorwort Wer in den letzten Jahren zum ersten Mal in China war, wird  erstaunt gewesen sein, wie modern chinesische Städte sind: Überall sind  Hochhäuser aus dem Boden gewachsen, und neue Verkehrsmittel machen das Reisen  schnell und bequem. Wer in den letzten 30 Jahren immer mal wieder in China  unterwegs war, mag verblüfft gewesen sein, wie rasch sich diese Veränderungen  vollzogen haben. Denjenigen, die der chinesischen Sprache kundig sind, wird in  solch einem Moment das Sprichwort (ri xin yue yi 日新月异) in den Sinn kommen:  „Jeden Tag etwas Neues, jeden Monat eine Veränderung.“
 Nachdenklichen Menschen geht dabei eine Frage nicht  aus dem Kopf: Wie ergeht es den Menschen angesichts einer solch rasanten, ja  rücksichtslosen Entwicklung, die ihr Alltagsleben binnen kürzester Zeit  vollkommen umwälzt? Wie fühlen sie sich dabei? In den vom Staat gelenkten  Medien wird nur wenig darüber berichtet. Dort liest man von den großen  Errungenschaften in der neuen Epoche der Nation. Dort sieht man die vor Glück  strahlenden Landbewohner, die in einer neuen, städtischen Umgebung ihr neues  Leben beginnen. In letzter Zeit hört man immer wieder die Bemerkung: lihaile  wode guo 厉害了我的国,  etwa „Wie irre ist mein Land  geworden!“ – oder, freier übersetzt, „Mein Land rockt nun.“
 
 Sicherlich nicht jeder empfindet Glückseligkeit bei  der allgemeinen Verstädterung. Es ist zu erwarten, dass viele von den  Umsiedlern, die – ob nun freiwillig oder aber gezwungenermaßen – in den  schnell erbauten Betonhäusern leben, ihre altgewohnte Lebensart vermissen. Aber  oft sind die Menschen angesichts der auf sie einstürmenden Veränderungen  sprachlos, oder es fehlt ihnen eine adäquate Möglichkeit, ihre neuen  Erfahrungen in Worte zu fassen. Einmal hat ein einfacher Fischer, der wegen des  Yangzi-Staudamm-Projektes zwangsumgesiedelt werden sollte, in einem Fernsehinterview  in simplen Worten die ganze Misere, das Leiden des Verlusts dieser Menschen,  auf den Punkt gebracht: „In der neuen Siedlung ist es doch nicht dasselbe. Hier  habe ich einen direkten Ausblick auf diesen Fluss. Hier kann ich mir jedes  vorbeifahrende Boot ansehen, hier kann ich den Gesängen des Bootsmanns  lauschen.“ Er wusste, dass kurz nach diesem Interview sein Haus, in dem seine  Familie seit Generationen wohnte, von dem steigenden Wasser des Stausees  überschwemmt werden sollte. Und er konnte nichts dagegen tun.
 
 Wenn auch ein aktiver Widerstand praktisch unmöglich  ist, so könnte man doch erwarten, dass solche Umwälzungen der Gesellschaft den  Künstlern Themen und Motive bieten. Tatsache ist aber, dass in den letzten  Jahrzehnten die meisten Künstler damit beschäftigt waren und immer noch sind,  ihren neuen Wohlstand in der neuen Lebenssituation zu sichern. Die Wendigen  unter ihnen gehören mittlerweile sogar zu den Neureichen. In der Regel malen  sie marktgängige harmlose Landschaftsansichten nach einem altmeisterlichen Stil  oder versuchen, dem Glorifizierungsbedürfnis der Partei zu genügen. Sozialkritische  Themen hingegen gilt es zu vermeiden. Manche Künstler richten ihren Blick auf  den internationalen Kunstmarkt und versuchen vor allem, das westliche Publikum  mit Exportwaren in klischeehafter Chinoiserie oder in einem trendy style zu  versorgen. Dass dabei ein Thema wie die Urbanisierung in China wenig  künstlerische Aufarbeitung erfährt, verwundert nicht.
 
 Wir, die wir an diesem Projekt „Qingdao: Neue ‚Acht Szenerien‘ einer Stadt“  beteiligt sind, sind sehr dankbar,  dass sich die diesjährige CHINA TIME dem Thema Chinesische Städte widmet. Wir  haben in unseren Arbeiten versucht, die  sich verändernden visuellen Erlebnisse in chinesischen Städten im heutigen  China festzuhalten und ihnen künstlerische Gestalt zu geben.
 
 Als ein Beispiel einer sich schnell entwickelnden  Stadt haben wir die Hafenstadt Qingdao in der Provinz Shandong ausgewählt,  nicht nur wegen unserer heimatlichen Verbundenheit mit ihr, sondern auch wegen  der historischen Bindung zu Deutschland: Von 1898 bis 1919 gehörte die Stadt  als Kolonie (Kiautschou) zum Deutschen Reich. Aber noch wichtiger ist für uns:  Qingdao besitzt die typischen Merkmale einer sich schnell entwickelnden und  pulsierenden Stadt des heutigen Chinas.
 
 Um die Orte zu bestimmen, mit denen wir uns künstlerisch  auseinandersetzen wollten, haben wir eine Strategie angewendet, die einerseits  auf eine althergebrachte Methode der Orakelbefragung zurückgreift und  andererseits das Zufallsprinzip walten lässt. In einer fern vom Großstadtlärm  gelegenen Gegend, dem taoistischen Hualou-Tempel, haben wir, im Rahmen einer  religiösen Zeremonie und unter der Obhut der Äbtissin Leng, ein Orakel befragt,  indem zweimal acht Bohnen auf einer Stadtkarte Qingdaos ausgeworfen wurden. Auf  diese Weise wurden insgesamt sechzehn Orte bestimmt, die den Ausgangspunkt für  die weitere Entwicklung des Projekts bilden sollten. Nach dem Besuch dieser  sechzehn Orte haben wir acht dieser Orte ausgewählt. Hier sollte das  Grundprinzip des traditionellen Verständnisses vom Zusammenwirken zwischen  Himmel, Erde und Menschen zum Tragen kommen. Und umgekehrt sollte ehrfurchtsloser  Haltung gegenüber den Himmelskräften und dem oft maßlosen Eingriff in die Natur  beim Städtebau entgegengewirkt werden.
 
 In der Auseinandersetzung mit diesen Orten haben  wir, die drei am diesem Projekt beteiligten Künstler, unterschiedliche Wege  beschritten. Die Resultate dieser Auseinandersetzung sind in dieser Ausstellung  versammelt. Die als Rohmaterial dienenden Fotovorlagen sind in einer gesonderten  Ausstellung unter dem Titel: Auf der  Suche nach den richtigen Orten, in der Rathausdiele bis zum 10. September  zu sehen.
 
 Bei diesem Projekt handelt es sich zwar auch um ein  gesellschaftliches Thema, aber unsere Fragestellung ist primär künstlerischer  Natur. Wie verhalten sich dreidimensionale Objekte zu zweidimensionalen  Bildern? Wie kann die sequenzielle Lesart der traditionellen chinesischen  Malkunst in das Medienzeitalter hinübergerettet werden, in dem doch vor allem  bewegte Bilder die Wahrnehmung bestimmen? Oder: Wie lässt sich die Malkunst im  Digitalzeitalter neu positionieren? Wie kann die althergebrachte Vervielfältigungsmethode  von Abreibungen in einer neuen Situation, in der Bilder in einem rasanten Tempo  vermehrt und verbreitet werden, ihre Ausdruckskraft bewahren? Solche Fragen  sind für uns wichtig, neben den Fragen nach den Bildinhalten. Nun präsentieren  wir die Resultate unserer Bemühungen hier in der Ausstellung und hoffen, dass  die eine oder andere Lösung von Ihnen Zuspruch erfahren wird.
 
 Es bleibt mir noch die angenehme Pflicht, meine Dankbarkeit  gegenüber denjenigen auszudrücken, ohne deren Hilfe diese Ausstellung nicht  zustande gekommen wäre. Allen voran möchte ich meinen Künstlerkolleginnen und ‑kollegen  Frau Prof. Zhu Xu, Herrn Prof. Deng Huaidong, Herrn Prof. Li Weisong. Herrn  Prof. Li Ke und Herrn Xia Xun für ihre Mitarbeit an diesem Projekt danken. Ich  bin Herrn Michael Konow, Frau Lisa Gathen und Herrn Frank Schlatermund von der  Handelskammer Hamburg, Herrn Christoph Gärdner von den Hamburger Öffentlichen  Bücherhallen sowie Frau Dr. Svenja Zell von der Rathausdiele äußerst dankbar  dafür, dass sie uns die Möglichkeit gegeben haben, unsere Werke auszustellen.  Ich danke Frau Marlis Adjanor für ihre organisatorischen Arbeiten. Sie hat  während des gesamten Zeitraums der Vorbereitung immer wieder Ordnung in das  Projekt gebracht und mir den Rücken freigehalten. Ferner möchte ich mich bei  Herrn Axel Kopido bedanken für seine Hilfe bei der Aufbereitung diverser Texte  zur Ausstellung und zum Katalog und die zahlreichen fruchtbaren Diskussionen,  die wir dabei führen konnten. Ich möchte meine Dankbarkeit Herrn Prof. Kai  Vogelsang und Prof. Thomas Fröhlich aussprechen, die dieses Projekt mit großem  Interesse begleitet und unterstützt haben. Die Förderung von der Hamburger  Kulturbehörde bildet die finanzielle Grundlage für dieses Projekt. Hier möchte  ich das Verständnis und die tatkräftige Unterstützung von Frau Henriette von  Enckevort besonders hervorheben. Herr Philipp Hirschfeld von der Senatskanzlei, der Koordinator der diesjährigen CHINA-TIME, hat unser  Vorhaben von Anfang an gefördert und unterstützt. Frau PD Dr. Dorothee Schaab-Hanke und Herrn Dr. Martin  Hanke vom Ostasien Verlag möchte ich herzlich danken für Ihre unermüdliche  Arbeit und große Hilfe bei der Edition und Gestaltung unseres Kataloges. Ohne  die Fotodokumentationen, die Herr Bernd Spyra eigens in Qingdao für uns  erstellt hat, wäre unser Vorhaben um einiges ärmer. Zahlreiche Studierende  haben mir bei meinen Aufgaben geholfen, und ich möchte meine Dankbarkeit bei  dieser Gelegenheit aussprechen: vor allem Jonas Paulsen, Dan Peterson, Fang  Siyuan und Kristin Ralfs. Last but not least bedanke ich mich bei Frau Prof.  Cornelia Monske von der Hochschule für  Musik und Theater Hamburg und zwei ihrer Studierenden, Ruobing Sun und  Xinghan Ren, für deren schönes Musikprogramm.
 Ni ShaofengHamburg, August 2018
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