OSTASIEN Verlag
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Revolutionäre Jugend
 
   
Zhang Langlang
 
   
1   Ruhiger Horizont
 
   
(2)
 
   

Zwei Tage suchte ich nach einer Gelegenheit, um auch den andern drei zu sagen, sie sollten sicherheitshalber ihre Exemplare vernichten. Aber der Mensch denkt, Gott lenkt. Nach dem Frühlingsfest hatte es eine edle Überraschung gegeben: Zwei Tage lang hatten wir uns endlich einmal die ausgehungerten Bäuche richtig vollschlagen können. Alles war vergnügt und glücklich. Am vierten Tag des neuen Mondjahres (am 9.2.1970) hatten wir gerade unsere Reissuppe ausgelöffelt, als Zhang, der Polizeigewahrsamschef, mit der Mauser in der Hand auf das Flachdach stieg, zusammen mit einigen Soldaten, die dort ein Maschinengewehr aufstellten. Die Häftlinge ängstigte das nicht, den Anblick waren sie gewohnt; nein, man freute sich – „Jetzt gibt’s mal ein neues Stück zu sehn! Es gibt bestimmt was! “ Was für ein Stück das sein würde, egal, Hauptsache, es gab was zu sehn.

Zhang wartete, bis sich alles in Reih und Glied ordentlich aufgestellt hatte, dann legte er los auf dem Dach: „Tian Shoupeng, vortreten! Mach das Lager auf. Die ich aufrufe, nehmen ihr Gepäck, gehen ins Lager und holen sich selbst ihre Sachen raus, schnüren hier im Hof ihr Bündel, hocken sich auf den Boden und bleiben hocken, bis sie aufgerufen werden. Also, wer jetzt aufgerufen wird, tritt vor. “ Alles war aufgeregt. Wird der Mensch verlegt, lebt er, wird ein Baum verlegt, stirbt er. Hätte man uns nicht bald verlegt, wäre uns langes Moos hinter den Ohren gewachsen.

„Suo Jialin, Wang Tao, Song Huimin, Zhu Zhangtao, Tian Shuyun, Zhang Langlang … “ Zhang las einen Namen nach dem anderen ab, aus meiner Strafsache noch den Sieben und noch wen. Meine Zellengenossen schlugen mir auf die Schulter, beglückwünschten mich: „Gut, gut hast du’s getroffen, Kerlchen, vergiss nur uns alte Kumpel nicht. “ Ich suchte mein Zeug zusammen und sagte dabei: „Was heißt gut getroffen? Ist doch einfach, reitet einer ’nen Esel und nagt dabei ein Huhn ab; wo er dann die Knochen hinschmeißt, weiß keiner! “ Aber alles redete durcheinander: Verlegt werden ist gut, verlegt werden ist gut.

Lief alles ganz sauber und rasch, in wenigen Minuten waren die sieben, acht Aufgerufenen beisammen und hockten auf dem Hof. Dann rief Zhang einen nach dem anderen hinaus, so im Abstand von fünf Minuten.
Als die Reihe an mir war und ich in den äußeren Hof trat, erstarrte ich. Die vor mir drangekommen waren, die waren schon verarbeitet worden: Handschellen angeschmiedet, Fußketten angeschmiedet, alle mit einer groben großen schwarzen Eisenkette verbunden, nicht anders als im Film eine Reihe zum Tode Verurteilter. Man befahl mir, mich auf den Boden zu setzen, und zwei Polizisten, dingkang, dingkang, schmiedeten auch mir Fußkette und Handschellen an. Ich dachte: Ist wohl für die Sicherheit auf dem Transport, dass sie so einen Aufwand betreiben.

Dann befahlen sie uns paar Männeken, aufzustehn und vors Außentor zu gehn. Am vierten Tag des neuen Mondjahrs klirrten Fußketten hell durch die Kreisstadt Raoyang, zerschlugen die Morgenstille.

Ich hatte nicht gedacht, dass die erste Szene meiner friedlichen Siebziger Jahre mit einem solchen Lärm eröffnet werden sollte. Die Straße vor dem großen Gefängnistor war abgeriegelt worden, in der Ferne an ihrem anderen Ende drängten sich Neugierige, reckten die Köpfe, um was zu sehn. Am Lastwagen hoben wir unser Gepäck hoch und gaben es den Polizisten. Die banden es zusammen mit örtlichen Kräften oben auf dem Laster fest. Wir Klirrenden stiegen nacheinander auf den Wagen und setzten uns auf die angewiesenen Plätze. Von alten Knastbrüdern hatte ich gehört, so wie wir ausstaffierte Häftlinge bezeichne man scherzhaft als „Klirrprügel “.

Ein Polizeibeamter verlas uns vor der Abfahrt ein offizielles Schriftstück. Darin stand weder, warum, noch, wohin wir verlegt wurden und wozu, wir wurden nur ermahnt, uns während des Transports ruhig und folgsam zu verhalten, sonst „sage man nicht, man sei nicht gewarnt worden “. Nie sagten sie etwas von irgendwelcher Bedeutung, immer nur solche Warnungen.

Wir kamen durch Jixian, da kam noch eine Gruppe Häftlinge hinzu, auch alles „Klirrprügel “, als erstes eine Frau, Sun Xiuzhen. Wir waren uns schon früher begegnet. Sie war wunderschön. Später war ich mit einem Mitangeklagten in ihrem Fall zusammengesperrt gewesen, dem Arzt Tian Shuyun. Man kann sagen, wir drei waren alte Bekannte. Als sie mich jetzt sah, lächelte sie ein wenig; es schien, auch sie war die Haft dort leid und dachte, werde man nur verlegt, werde es schon besser.

Xiuzhen – Schöner Schatz. Der Name klingt unerträglich banal. Aber sie war lauter, einzigartig. Als wir uns das erste Mal sahen, in der Studiengruppe im Gefängnis, zog ihre Gestalt mich in den Bann. Ich war damals bereits ein Jahr lang im Gefängnis. Es heißt: In diesem Stadium sieht der Gefangene Helenen in jeder Muttersau. Aber ich war schließlich Kunststudent gewesen. Sie setzte sich nicht in Szene, warf niemandem Blicke zu, schaute zu Boden, ihre schweigende sanfte Wärme verzauberte. Hinter Gittern und Beton trat ihre Einzigartigkeit nur umso mehr hervor. Allerdings zog hier jetzt die Zhou von den gefüllten Pfannkuchen die Blicke der meisten Häftlinge auf sich. Sie war tatsächlich die Enkelin der alten Pekinger Pfannkuchenbäckerfamilie Zhou. Vielleicht weil sie Hui[1] war, hatte sie eine helle Haut, auf der die Adern durchschimmerten, unter dichten Brauen große Augen; ihre heitere, natürliche Art gewann alle.

Sun Xiuzhen verhielt sich damals anders als wir, sie war das Muster eines wohlerzogenen zurückhaltenden jungen Mädchens. Ich hielt sie fälschlicherweise für eine junge Japanerin. Ich hatte gehört, wie sie gerufen wurde, und sowas wie „Kuli “ oder „Kuliwa “ verstanden. Mein Zellengenosse Xue Xinping, der Student an der japanischen Abteilung der Hochschule für internationale Beziehungen gewesen war, sagte leise zu mir: „Wenn das Kuri heißen sollte, bedeutet das Abenddämmerung, und dieser Name entspricht ja wirklich ihrer Erscheinung, so geheimnisvoll verschwimmend… “ – Er war von ihr damals ebenso hingerissen wie ich. Mit dem Pinsel malte er auf seinen Hocker zwei flotte Schriftzeichen, die so ungefähr aussahen wie mu und za, und behauptete, das werde japanisch kuri gelesen und bedeute Abenddämmerung. Bei jeder Sitzung stellte er den Hocker mit den gut sichtbaren Schriftzeichen neben Sun Xiuzhen, aber es war, als ob sie nichts sähe, sie zeigte keine Reaktion. Xue glaubte, sie zeige Zurückhaltung, wie sich das gehöre.

Später waren der Sieben und ich mutiger, wir fanden einen Weg, mit den weiblichen Häftlingen Mitteilungen auszutauschen (in meiner Novelle „Zhou vom Braten “ hab ich das schon beschrieben, nur hab ich dort Zhou als meine Korrespondentin genannt, in Wirklichkeit war’s jemand anders), und ich begann dann wirklich, mit Sun Xiuzhen zu korrespondieren. Bald wussten in der Studiengruppe fast alle von dieser Romanze, aber wir glaubten, das sei ein Geheimnis, das nur wir vier kannten.

Erst als wir der Studiengruppe unsere Geständnisse vortragen mussten, und Sun Xiuzhen dran war, erfuhr ich, dass unser beider Verbrechen „Aufnahme von Verbindung mit dem Ausland “ und dass in ihrem Fall ein Mann der Haupttäter war. Ich dachte, das ist sicher ihr Freund, ihr verbunden in Leben und Tod. Aber das hielt mich nicht ab, ihr glühende Liebesgedichte zu schreiben. In unserer Korrespondenz wurde dieser Haupttäter mit keiner Silbe erwähnt.

Zu diesem Zeitpunkt hatten wir im Gefängnis uns von der Welt und von unserer Rolle darin schon verabschiedet. Es machte uns glücklich, diese platonischen Liebesbriefe auszutauschen, wir erröteten, wenn wir sie lasen, und hatten Herzklopfen. In unserer Düsternis war dies der leuchtendste Morgen, brach sich der Lebenswille Bahn.

Leider wurden wir nach dem Befehl Nr. 1 nicht an den gleichen Ort geschickt. Wir waren in benachbarten Kreisen, sie, Ying Ruocheng und seine Frau Wu Shiliang und die Studentin Li Shiquan waren alle nach Jixian gekommen. Wie sie da auf den Laster kam, war auch sie zum Klirrprügel gemacht worden und bewegte sich dennoch ebenso anmutig wie zuvor; verschämt errötete sie ein wenig, als sie mich sah, und senkte lächelnd den Blick. Unschuldig, herzzerreißend wie eh.

Der Laster fuhr los, Richtung Peking, Dörfer und Städte flogen vorbei, Shenzhou, Anping, Xianxian, Hejian … ich wußte, wir kamen Peking immer näher. Ich wurde aufgeregt, ich hatte geglaubt, in dieser Zeit eines nahenden Kriegs kämen wir so bald nicht wieder in die Hauptstadt; jetzt diese große Veränderung, nicht schlecht! Mir kam ein Lied in den Sinn, das wir in der Grundschule gelernt hatten: „Über den Yalu-Fluss rollt unser Wagen, als ob er fliegt, Heimat, ich komme, ich komme, Heimat, du liebe Mutter! “ Aber mir wurde daraus: Peking, ich komme, ich komme! Peking, du liebe Mutter! – Leider fuhren die Autos damals noch nicht so schnell wie heute, von Fliegen konnte keine Rede sein.

Um zwei in der Frühe erreichten wir Peking, vertraute Wege, zurück ins Pekinger Polizeigewahrsam, Banbu-Brücke Nr.44.

Mehrere große Busse standen auf dem großen Platz des Polizeigewahrsams. Auf dem Platz auf allen vier Seiten Polizisten in dichten Reihen und hinter ihnen noch Soldaten, mit geladenen Gewehren. Polizisten trugen damals alle Militäruniformen, hatten aber keine Gewehre. Polizisten, die uns bewachten, nannten wir „Wachtmeister “, Soldatenwachen „Sergeanten “. Aus den Bussen quollen mehrere Dutzend oben und unten zurechtgeschmiedete Klirrprügel. Auf die Befehle der Wachtmeister hin klirrten wir zu dem kleinen Tor in der Nordwestecke des Platzes.

Mit einemmal begriff ich: In diesem Stück heute ging’s ums Leben.

Der Gebäudekomplex des Pekinger Polizeigewahrsams hatte insgesamt 24 Flure für die Häftlinge, verteilt auf drei Gebäude. Das K-Gebäude hatte drei Stockwerke mit je vier Fluren, Nr. 1 bis 12. Das Pentagon hatte zwei Stockwerke mit je 5 Fluren, Nr. 13 bis 22. Nr. 23 waren die Todeszellen, an dem kleinen Hof an der Nordwestecke. Nr. 24 war später ebenfalls an diesem kleinen Hof gebaut worden, ebenfalls für Todeszellen oder, wie die Häftlinge sie nannten, Gewehrzellen.

Während der Zeit in der Studiengruppe im Polizeigewahrsam war ich zur Arbeit auch in diesem kleinen Hof gewesen. Einmal musste ich in der neu gebauten Nr. 24 saubermachen; dort gab es mehrere Zellen mit „fortschrittlicher Ausstattung “, sogenannte Gummizellen mit Schaumstoff an allen Seiten, fast wie Sofas, für besondere Häftlinge, damit sie nicht Selbstmord begehen konnten. Ein andermal musste ich Zellen aufräumen, ich zog einen kleinen Wagen, auf den ich in einer gerade geräumten Gewehrzelle alles aufladen und im Wagenhof abladen musste. Es hieß, später konnten sich die Angehörigen der Häftlinge da die hinterbliebenen Sachen heraussuchen. Ich sah ein Paar Schuhe mit Widerwillen an; ich wusste, gestern hatte der Besitzer dieser Schuhe noch gelebt, jetzt gab es ihn nicht mehr.

Einmal hatte ich Polizisten geholfen, Handschellen und Fußketten abzuwaschen. Es waren tatsächlich noch Blutspuren dran. Die gewaschenen Fesseln verstauten die Polizisten in einer Kiste für spätere Häftlinge. Bei dieser Arbeit dachte ich nicht daran, dass schließlich die Reihe auch an mich kommen konnte.

Wir mussten uns gegenüber der Wand des kleinen Hofs in einer geraden Reihe auf den Boden hocken. Starke Lampen erleuchteten alles taghell. Auf der alten Mauer gegenüber konnte man jedes einzelne Blättchen Moos unterscheiden. Mir fiel auf, dass in diesem modernisierten Hof noch so eine historische alte Mauer übriggeblieben war. Aus ihren Fugen quoll Mörtel, die Ziegel waren unterschiedlich verwittert, jeder hatte seine Eigenart. Ich hatte gehört, dass sie [1910] hier Wang Jingwei* nach seinem misslungenen Attentat auf den Regenten Zaifeng gefangen gehalten hatten und dass [1948] Kawashima Yoshiko alias Jin Bihui* in diesem kleinen Hof hingerichtet worden war.

Die Polizisten hinter uns begannen Namen aufzurufen. Wer aufgerufen wurde, ging zu dem Tisch in der Mitte des Hofes, registrierte sich, nahm dann seine Sachen und verschwand im Flur.

Ich war dem Pekinger Polizeibüro schon vor anderthalb Jahren „überwiesen “ und mehrere Dutzend Male verhört worden. Manchmal sagten sie, man sei jetzt großzügig, dann wieder, jetzt werde zugeschlagen. Mit der Zeit bekam ich eine dicke Haut. Mir wurde schließlich klar: ob sie nun milde lächelten oder einen düster anstarrten, immer sollte ich verraten, wer mir das eingegeben hatte. Ihre Logik war einfach: Wenn ich für meine paar Witze und „reaktionären Hetzgeschichten “ die „Quelle der Hetze “ angab, dann hatte ich nur „Hetze weitergegeben “. Gab ich niemand an, dann hatte ich selber die „Hetze produziert “. Auch mir war klar: hatte ich „Hetze weitergegeben “, bekam ich vielleicht drei, fünf Jahre. War ich selber der Hetzer, konnten sie mich zu lebenslänglich, mindestens zu 20 Jahren verurteilen. Für mich waren diese Zahlen ziemlich egal. Hätte ich für ein mildes Urteil jemand verpfiffen und drei, fünf Jahre bekommen, wäre ich immer noch ein aktiver Konterrevolutionär und mein Leben lang gebrandmarkt. Zwanzig Jahre waren drinnen auch nicht unbedingt härter als draußen, und wer wusste schon, was nach 20 Jahren sein würde. Ob sie mir also sanft kamen oder hart, ich blieb bei meiner Linie, ich hatte mich entschlossen. Ich fragte mich jedes Mal nur: was kann schlimmstenfalls passieren? Wenn du am Boden angelangt bist, stehst du auf festen Füßen.[2]

Diesmal, als ich da hockte und wieder nach dem alten Muster vor mich hin dachte: „Was wird schon schlimmstenfalls passieren? “, entdeckte ich plötzlich: Unter mir war kein Boden mehr. Das Spiel war aus. „Die Aufführung ist beendet – es kommt nichts mehr! “ Gerade als ich das dachte, rief ein Polizist meinen Namen auf.

Sie trugen meinen Namen in einer Liste ein, ließen mich mein Bündel öffnen. Ich durfte nur eine Decke, eine Waschschüssel, ein Handtuch, Zahnbecher, Zahnbürste und Zahnpasta mitnehmen, eine Essschüssel und den Band Maos Werke; keine Kleidung und nicht mal eine Bettunterlage; eine Handbewegung wies mich weiter. Ein Polizist vor mir führte, ich stolperte hinterher. Ich dachte, wenn ich in der Zelle bin, kann ich die fragen, die schon länger hier sind. Als ich in der Zelle war, war ich allein. Ich hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, nichts, worüber ich mit mir verhandeln konnte.

Wie ein Sack fiel ich auf den Kang. Plumps. Schön, jetzt konnte ich mich endlich beruhigen, nach einem ganzen Tag Stress entspannen. Langsamer nun.

[1]    Huimin (回民): Chinesische Muslime, denen man oft die türkische Herkunft ansieht.
[2]    Vgl. auch die Beschreibung dieses Gefängnisses bei Jean Pasqualini, Prisoner of Mao (New York 1973), Kap. 5, und der „Studien “ im Gefängnis ebenda Kap. 8; dazu schon Robert Lifton, Thought Reform and the Psychology of Totalism: A Study of „Brainwashing “ in China (London 1961).

 
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